The revolution will not be bourgeouised – Perspektiven für Tunesien

 

Nach 23 Jahren der Diktatur und Korruption, mehreren Jahren des Hungers und der Perspektivlosigkeit, ein Monat nach dem Ausbruch der größten Proteste im Maghreb-Gebiet seit der Vertreibung der französischen Kolonialmacht ist Zine el-Abidine Ben Ali aus Tunesien. Doch die Flucht des Diktators war offensichtlich nicht weniger als ein Coup der herrschenden politischen Kaste, um ihr Regime erhalten zu können. Nicht einmal das ließen die Protestierenden zu, ungeachtet der Angriffe durch Polizei und Milizen. Vor allem die Drohung des Generalstreik durch die Gewerkschaft der UGTT zwang die Regierung in die Knie. Doch wie kann der Kampf jetzt fortgeführt werden?

 

Es waren in der Tat die Gewerkschaften, die, unter dem Druck ihrer Basis, eine wichtige Rolle im tunesischen Umsturz spielte. Auch wenn ihre oberen Führungsschichten von Marionetten der Ben-Ali-Partei RCD durchsetzt war stellten ihre mittleren und unteren Funktionärsschichten eine Art Zuflucht für Linke und Oppositionelle dar. Diese nutzten die Gunst des Augenblicks, um ihre Führung in den Kampf zu zwingen. Auch als die UGTT versuchte, sich an der Übergangsregierung zu beteiligen und die alten Cliquen wieder in Befehlspositionen zu bringen zwangen Massendemonstrationen in den Arbeiter_innenbezirken Tataouine, Sidi Bouzid, Regueb und Kasserine sie, ihre drei Minister und fünf Abgeordneten aus der Regierung zurück zu ziehen. Die Botschaft der Demonstrant_innen war klar: „Weg mit der RCD!“ Der deutschen Presseagentur Reuters gab eine junge Demonstrantin folgendes Interview:

„Wir wollen nicht, dass diese Revolution von dieser kriminellen Partei ausgeht!“ sagt sie, „Ich habe Angst, dass man uns die Revolution aus den Händen nimmt. Die Leute wollen Freiheiten und die neue Regierung will das nicht. Sie sind dieselben, die uns 22 Jahre lang unterdrückt haben!“

Die Situation zeigt eines ganz deutlich: Es ist wesentlich einfacher, einen Diktator loszuwerden als eine Diktatur. Ben-Ali wurde durch Gannouchi und seine Kumpanen ersetzt, die Terrorherrschaft der Polizei mag vorbei sein, doch ist jetzt das Militär effektiv an der Macht über die Straßen. Es ist klar, warum das Militär hier eingesetzt wird: Die Polizei, immer im direkten Kontakt mit den Unterdrückten ist unter den Protestierenden verhasst während das Militär eine Autorität hat, seit sie die höheren Führungsschichten des Repressionsapparat verhaftet hat. Diese Autorität braucht das neue Regime jetzt, um die reiche Bourgeoisie vor einer erneuten Revolution zu schützen.

Auch geht die Gewalt gegen Demonstrant_innen, wie etwa am 19. Januar in Tunis, weiter. Auch das spricht für einen Erhalt des Regimes.

Auf der anderen Seite hat der vergangene Diktator das Land nicht alleine verlassen – er hat etwa 60 Millionen Dollar in Gold und Devisen mit sich genommen. Dieses Geld verschob nach seiner Flucht nach Saudi-Arabien auf Konten in Frankreich und anderen Staaten der EU. Zwar haben die Nationalbanken von Deutschland und Frankreich das Einfrieren der Konten, wie schon in der Schweiz geschehen, angeboten, doch muss hier die internationale Solidarität weiter gehen. Die multiethnische Arbeiter_innenklasse Frankreichs, deren Kampf mit dem der Arbeiter_innen im Maghreb untrennbar verbunden ist, muss die Beschlagnahmung und Auslieferung des Geldes an die demokratisch gewählten Strukturen Tunesiens erzwingen!

Die Jugendlichen und Arbeitslosen, die Anwälte und Student_innen, die einen heldenhaften Kampf geführt haben, müssen ihren Kampf jetzt jedoch auf einen neue Ebene heben: Sie müssen sich mit den militanten Teilen der Arbeiter_innenklasse vereinen und sich in den Betrieben und an den Ausbildungsstätten in Räten organisieren. Denn wenn die Revolution in Tunesien nicht auf halbem Wege stehen bleiben will (wie in Algerien 1962) so muss sie sich bald die Frage stellen: Welche Klasse soll die Macht übernehmen?

Während die stalinistisch-hoxhaistische Partei PCOT für eine typische Etappentaktik eintritt – zuerst die bürgerliche, dann die sozialistische Revolution – müssen die Organe der Jugend und der Arbeiter_innen weiter gehen. Ihre Aufgabe ist es, die Macht in den Händen des Proletariats zu halten und die Revolution zu vollenden. Dafür muss sie sich organisieren, um eine konsequent revolutionäre Kraft gegen die Vereinnahmung der Revolution in petto zu haben, auf der anderen Seite muss sie in den nächsten Wochen die alten Herrscher aus den Machtpositionen entfernen. Sie muss ein revolutionäres Übergangsprogramm für Tunesien präsentieren.

Die Liga für die Fünfte Internationale, mit der wir in politischer Solidarität stehen präsentiert auf ihrer Homepage einen Vorschlag für ein solches Programm:

  1. Der herrschenden Partei muss die Macht entrissen werden. Ihre Milizen müssen entwaffnet, ihr Besitz enteignet und ihre Vertreter_innen und Minister_innen eingesperrt und zur Rechenschaft gezogen werden

  2. Die Polizeichefs und ihre folternden Wächter müssen eingesperrt und ihre Verbrechen aufgedeckt werden

  3. Die Geheimpolizei und die Regierungsmilizen müssen entwaffnet und entlassen werden, sie sollen durch eine Miliz der Arbeiter_innen und der Jugend ersetzt werden

  4. Das Militär muss demokratisiert werden, um zu verhindern, dass sie wieder als blinde Werkzeuge einer Diktatur missbraucht werden

  5. Alle politischen Gefangenen müssen frei gelassen werden, alle ins Exil vertriebenen müssen das recht haben, zurück zu kehren

  6. Die demokratischen rechte Parteien zu gründen, zu demonstrieren, sich zu versammeln und sich Zugang zu allen Medien zu verschaffen, besonders zu den Medien der Arbeiter_innen und der Jugend, die diese Revolution erkämpft haben

  7. Es müssen Lebensmittel und andere lebenswichtige Materialien an die Armen verteilt werden

  8. Es braucht eine automatische Anpassung der Löhne an die jeweilige Inflation („Scala mobile“)

  9. Die massive Arbeitslosigkeit soll durch Bauprojekte bekämpft werden, um die Slums durch lebenswürdige Häuser zu ersetzen

  10. Die Wahlen sollen unter Beobachtung und der Verteidigung der Arbeiter_innen- und Jugendkomitees und ihrer Milizen stattfinden. Diese sollen bei einer unabhängigen revolutionären Verfassungsgebenden Versammlung bestimmt werden

  11. Die tunesischen Arbeiter_innen und Jugendlichen müssen aufkommende Revolutionen und Aufstände im Nahen Osten und Nordafrika aktiv unterstützen und sich mit dem Kampf der Palästinenser_innen solidarisieren

Die Protestierenden in Tunesien stehen vor der Entscheidung, wer die Macht übernehmen sollen – und die Mächtigen der ganzen Welt, in Europa, Amerika, in Nordafrika und in Israel fürchten einen erneuten Ausbruch der Proteste, und eine sich ausbreitende Protestwelle. Am 16. Januar sagte der libysche Diktator Muammar Gadhaffi in einer Rede „an das tunesische Volk“: „Ihr habt einen großen Verlust erlitten. Es gibt niemanden, der Tunesien so gut regieren kann wie Zine. Tunesien, als ein entwickeltes Land und als Tourismusziel wird jetzt von Banden, Diebstahl und Feuer regiert werden.“ Seine Aussage zeigt nicht nur die offensichtliche Verwirrung des Diktators und guten Freunds Ben-Alis, sondern vor allem was er und die anderen autoritären Herrscher in Nordafrika und dem Mittleren Osten zu erwarten haben.

Diese Ausbreitung zu unterbinden ist die Aufgabe der Herrschaft eines bürgerlichen Regimes, und sie durchzuführen unumgänglich, wenn diese Revolution erfolgreich sein soll. Ziehen wir die Lehren aus Russland 1917, Algerien 1962 und vielen mehr: Diese Revolution wird nicht den Bürgerlichen anheim fallen. This revolution will not be bourgeouised!