Mursi ist am Ende, das alte Regime noch nicht

Nachdem der oberste Militärrat am 3.Juli den Präsidenten Mursi gestürzt und verhaftet hatte, protestieren seit Wochen in ganz Ägypten Anhänger*innen der Muslimbrüder, sowie Gegner*innen des Militärregimes aus anderen politischen Lagern, gegen den Putsch. Viele die anfangs am Tahrir-Platz das Ende der islamistischen Herrschaft feierten, sind schockiert von der rohen Gewalt, die das Militär gegen die Demonstrant*innen einsetzt – am 14.8. wurden ihre Protestcamps brutal geräumt, mehrere hunderte wurden ermordet, tausende verletzt. Eine Welle der Wut über das Massaker fegte über Ägypten hinweg, Polizeistationen wurden angegriffen und besonders in Oberägypten viele Kirchen und andere christliche Einrichtungen, sogar Schulen, angezündet.

Der Sturz des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi am 3. Juli wurde von einem Millionenaufstand erzwungen. Genau ein Jahr nach seiner Amtseinführung am 30. Juni 2012 hat Mursi den Großteil seiner ehemaligen Unterstützer*innen verloren. Gestürzt wurde er aber nicht von den Massen selbst, sondern durch einen Putsch des Obersten Militärrates, der zugleich eine neue Übergangsregierung einsetzte und beteuert, auf der Seite des Volkes zu stehen. Hier wiederholt sich eine Geschichte, die wir 2011 bereits erlebt haben – der Militärrat hat damals Mubarak zum Rücktritt gedrängt und selbst die Macht übernommen, mit dem Versprechen, den Ausnahmezustand, politische Unterdrückung und Polizeiwillkür zu beenden. Doch warum sollten die Massen diesmal den Generälen glauben, die nach Mubaraks Sturz bereits anderthalb Jahre lang herrschten und in Wirklichkeit das alte Regime aufrechterhalten hatten?

Im Februar 2011 feierten die Massen das Militär, das sich als ihr Verbündeter darstellte, und sich entschied, die Revolution nicht niederzuschießen, sondern Mubarak fallen zu lassen. Gleichzeitig verhalf ihnen diese Sympathie dazu, ohne Widerstand die Macht zu übernehmen. Der Oberkommandierende Mohamed Tantawi beließ zunächst Mubaraks Regierung im Amt. Der Ausnahmezustand wurde nicht, wie versprochen, aufgehoben, stattdessen gab es weiterhin willkürliche Verhaftungen. Nur vier Wochen nach Mubaraks Sturz protestierten erneut Massen gegen das Regime. Daraufhin, am 23. März 2011, erließ die Regierung ein neues Gesetz, wonach jeder Protest- oder Streikaufruf mit Gefängnis bestraft wird, wenn damit der Betrieb von staatlichen oder privaten Einrichtungen behindert werden soll. Viele tausend wurden von Militärtribunalen verurteilt. In die Zeit der Militärregierung fielen auch etliche Massaker gegen die Oppositionsbewegung, wie das Port-Said-Massaker vom 1. Februar 2012. Diese Ereignisse haben die Heuchelei, die Generäle stünden an der Seite der Massen, demaskiert.

Mursi hat im Juni 2012 die ersten Präsidentschaftswahlen (sehr knapp) gewonnen, weil er – als Kandidat der unter Mubarak unterdrückten Muslimbruderschaft – glaubwürdig versprochen hatte, den Staat von Mubaraks Gefolgsleuten zu säubern. Einer seiner „Erfolge“ war die Absetzung des verhassten Oberkommandierenden Mohammed Tantawi – auf den As-Sisi folgte, der ebenfalls viele Jahre unter Mubarak als General gedient hat. Abgesehen davon kann man vor allem bilanzieren, dass Mursi die Arbeiter*innenbewegung und Gewerkschaften entschieden bekämpfte und bewaffnete islamistische Banden gegen Demonstrationen einsetze, bzw. sie einfach gewähren ließ (ähnlich wie das alte Regime die „Mukhabarat“ einsetzte). All das hat gezeigt, dass er nur ein neuer Diener der herrschenden Klasse ist – und er hat die Millionen gegen sich aufgebracht.

Viele haben den Putsch am 3. Juli begrüßt oder sogar darauf gewartet. Das ist verständlich schon alleine deswegen, weil unter Mursi alle Oppositionellen, sowie die koptische Minderheit, der Gewalt von islamistischen Gruppen ausgesetzt waren und viele am 30. Juni eine blutige Konfrontation mit ihnen erwartet haben. Dennoch ist es naiv, die Armee für ihre Machtübernahme zu bejubeln, wo diese noch immer von Mubaraks Generälen geführt wird. In Wirklichkeit hat das alte Regime nie seine Macht abgegeben, sondern nur zeitweise das Bündnis mit den Muslimbrüdern gesucht, in der Hoffnung, dass Ägypten so wieder “zur Ruhe” kommt.

Ägypten wird nicht zur Ruhe kommen, solange sich die politische und ökonomische Lage der Massen nicht verbessert – egal, ob nun die Regierung von einem General, einem Muslimbruder, einem Liberalen oder einem Nationalisten geführt wird. Die Massen werden nicht vergessen, was sie in den Kämpfen gegen Mubarak, Tantawi und Mursi an Opfern gebracht haben – sie sind zu groß um den Kampf nicht weiter zu führen und der Konterrevolution die Gelegenheit zu geben alle Errungenschaften wieder zurück zu nehmen. Gleichzeitig ist jetzt gerade die Gefahr am größten, dass die Revolution durch eine blutige Militärdiktatur zerschlagen wird, das wird nur verhindert werden, wenn die Massen – die Jugend und die Arbeiter*innenklasse – entschlossen gegen die neue Regierung kämpfen. Die ägyptische Revolution hat auch mit vielen Mythen aufgeräumt, etwa dass das Bewusstsein in der arabischen Welt noch nicht “reif” für die Revolution sei und daher zwangsläufig die Islamist*innen gewinnen werden.

Gleichzeitig ist aber offensichtlich, dass die Revolution in einer schwierigen Lage steckt. Die Armee wird ihre Macht für nichts anderes als zur Verteidigung des alten Regimes einsetzen. Die Polizei hat nach dem Putsch die größten Massaker seit der Revolution 2011 gegen Anhänger*innen der Muslimbruderschaft verübt – bei Demonstrationen im Juli starben einige dutzende, beim Massenmord am 14.August einige hunderte (offizielle Zahlen sprechen von über 600), als die Protestcamps vor der Rabaah al-Adawiya-Moschee (“R4BIA-Square”) und am Nahda-Platz in Giza gewaltsam aufgelöst wurden. Diese Ereignisse helfen der Muslimbruderschaft auch, durch ihre Opferrolle wieder Popularität in der Bevölkerung zu gewinnen – viele erklärten sich solidarisch mit denen, gegen die sie zuvor protestierten. Schon alleine deswegen könnte es für die Linke fatal sein, wenn sie nun das Militärregime begrüßt oder verharmlost. Auch kann und wird sich die repressive Gewalt des Militärs wann immer notwendig für ihre Machterhaltung auch gegen jeglichen fortschrittlichen Protest und Arbeiter*innenkämpfe richten.

Die Tamarod-Kampagne war ein Schritt vorwärts für die Revolution, aber der Putsch ist wieder einer von vielen Rückschlägen, die sich seit 2011 ereignet haben. Die Rückschläge – von der ersten Militärjunta über das Verfassungsreferendum 2011, die Wahl Mursis 2012, das zweite Verfassungsreferendum bis zum stillen Putsch 2012 – drückten alle auch das Fehlen einer eigenständigen Politik der „revolutionären“ Linken aus, die meist lediglich im politischen “Windschatten” von “liberalen” oder “progressiven” Nationalist*innen fuhr.

Längst nicht jede*r, der*die sich Revolutionär*in nennt, ist Revolutionär*in. Selbst wer in der tiefsten Überzeugung den revolutionären Aufstand verabscheut, hat sich spätestens am 11. Februar 2011 – am Tag Mubaraks Rücktritts – „an die Seite des Volkes“ gestellt, entweder aus Angst, oder in der Hoffnung, man könne aus der Niederlage des alten Diktators einen Vorteil gewinnen. Diese Hoffnung hatte sicher die Muslimbruderschaft, aber auch die „Liberalen“ um Mohammed El Baradei. Angst davor, von der Revolution überrollt zu werden hatte und hat der Militärrat selbst, aber auch eine Menge reformistischer und stalinistischer Parteien, die heute das Militärregime für seine Verbrechen feiern. Sie sind, von einem kommunistischen Standpunkt betrachtet, das entscheidende Hindernis für den Sieg der Revolution. Deutlich wird das etwa bei der „Kommunistischen Partei Ägyptens“. Sie positioniert sich noch weiter rechts als der pro-imperialistische Liberale El Baradei, und kritisiert ihn für seinen Rücktritt am 15. August: „Sein Rücktritt von der Position des Vizepräsidenten fand zwar unter sehr schweren Bedingungen statt, aber es ist eine Flucht vor seiner nationalen Verantwortung in Zeiten der Krise. […] Unsere Leute kämpfen gegen faschistische und terroristische Marionetten des Imperialismus. Dies erfordert die nationale Einheit und die volle Unterstützung für unsere ägyptischen Streitkräfte und die Polizei, so dass diese einen glänzenden Sieg für den Fortbestand, die Unabhängigkeit und die Einheit unseres Landes erringen mögen.“

Der oberste Militärrat hat die Situation Ende Juni 2013 geschickt ausgenutzt: Die Massen auf den Straßen sah er als Gelegenheit sich an die Spitze der Bewegung zu setzen (mit Lügen wie “The army and the people are one”), diese damit zu instrumentalisieren und damit ihre eigenen Taten zu legitimieren, also zu behaupten “im Sinne des Volkes” gehandelt zu haben. So rief As-Sisi am 26.7. die Massen auf, auf die Straße zu gehen und ihm das Mandat zu geben, gegen “Gewalt und Terrorismus” zu kämpfen. Nach dem Massaker am 14.8. wird nun die R4BIA-Bewegung, immer größer (z.B. auch von Erdoğan und vielen Türk*innen gestützt), viele Ägypter*innen erklären sich solidarisch mit den Protestierenden, die von der Polizei massakriert wurden und schließen sich den Muslimbrüdern im Protest an – doch auch ein drittes Lager formierte sich nach dem Staatsstreich: Am Sphinx-Platz bildet sich der sogenannte “third square”, wo sowohl gegen die Muslimbruderschaft, als auch das Militär protestiert wird. Getragen wird der Protest von revolutionären Gruppen wie dem 6th of April Youth Movement, das die Revolution 2011 angestoßen hatte – vor allem viele Jugendliche haben die Repression von beiden Seiten satt und wollen die wirklichen Ziele der Revolution umsetzen. Sie sind nur ein paar hunderte bisher, aber könnten durch die jüngsten Ereignisse bald mehr Zulauf bekommen.

Das Fundament der Revolution sind die Arbeiter*innen – sie können enormen Druck auf jede Regierung ausüben, durch Streiks die Wirtschaft lahmlegen und wenn auf ihre Forderungen nicht eingegangen wird, die Produktion unter eigener Kontrolle weiterführen. Sie müssen sich in Räten organisieren, die als demokratische Diskussions-, und Entscheidungs- und vor allem Aktionsorgane dienen, die Proteste und Generalstreiks organisieren können um die Regierung in die Knie zu zwingen. Auch die Bauern und Bäuerinnen, revolutionären Jugendlichen und einfachen Soldaten müssen Räte bilden – die Soldatenräte müssen Angriffe auf Demonstrationen verweigern, also die Befehlsgewalt der Generäle von der Basis her zerbrechen. Die Arbeiter*innenbewegung und Jugend müssen auch die Verteidigung der Kopt*innen und ihrer Kirchen gegen islamistische Angriffe und das Zurückschlagen sexistischer Gewalt gegen Frauen organisieren. Es müssen bewaffnete Selbstverteidigungsorgane der Arbeiter*innenbewegung gebildet werden, um Demonstrationen und Streiks zu schützen. Männer und Frauen, Muslim*innen und Kopt*innen müssen gemeinsam gegen ihre Ausbeutung und Unterdrückung kämpfen – dabei muss jeglicher Chauvinismus innerhalb der revolutionären Bewegung entschieden bekämpft werden und besondere Rücksicht auf unterdrückte Schichten innerhalb des Proletariats genommen werden.

Die Räte haben die Aufgabe, die Forderungen der unterdrückten Massen selbst zu diskutieren, zu entscheiden und zu erkämpfen, anstatt immer wieder an die eine oder andere bürgerliche Fraktion zu appellieren, sich für ihre Interessen einzusetzen. Das ist das einzige Rezept, um zu verhindern, dass der nächste Aufstand wieder von bürgerlichen Kräften verkauft wird. Nur so können die arbeitenden Massen mit dem alten Regime brechen – denn der SCAF wird sich nicht so einfach von einer zukünftigen Regierung (sofern sie das überhaupt will) zurückdrängen lassen. In ihm lebt die Diktatur von Mubarak weiter, solange nicht die Mörder und Verbrecher vor ein demokratisches, von den Räten kontrolliertes, Gericht gestellt werden. So muss auch Mubarak selbst von einem solchen Gericht verurteilt werden und für seine Verbrechen geradestehen.

Eine Arbeiter*innenpartei muss gegründet werden, die auf der Basis eines revolutionären Programms die richtigen Forderungen erarbeitet und mit einer konsequenten Klassenpolitik die Arbeiter*innen im Kampf vorantreibt, statt die “nationale Einheit” zu propagieren. Um die Revolution zu vollenden, müssen erst die Massen die Macht der Armee brechen. Um die dringenden Bedürfnisse der Armen zu stillen muss eine Arbeiter*innen und Bäuer*innenregierung gebildet werden, die die Militärelite und nationale sowie imperialistische Bourgeoisie enteignet und die Produktion auf Bedürfnisse auslegt statt auf Profit. Die Medien müssen den Massen als Sprachrohr dienen und dem alten Regime entrissen werden. Das Land muss den Großgrundbesitzern entrissen werden und in die Hände derer gelegt werden, die es bewirtschaften. Kurz – die Arbeiter*innenklasse und die revolutionäre Jugend müssen die Macht der Bourgeoisie und des alten Staatsapparates zerbrechen, und hierfür müssen sie ihre eigenen Machtorgane aufbauen. Die Revolution kann nur dann endgültig siegen, wenn sie das Problem an der Wurzel anpackt: Die globale Krise die die Armen auf die Straßen trieb ist eine kapitalistische – und der Staatsapparat der über Jahrzehnte unter Mubarak folterte und mordete ist ein bürgerlicher. Er wird, solange er besteht, die ausbeuterischen Klassenverhältnisse verteidigen und Arbeiter*innen, die dagegen aufbegehren unterdrücken. Die demokratische Revolution muss in eine sozialistische übergeführt werden, auf internationaler Ebene – nur so können die Forderungen der Revolution nach Brot, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit tatsächlich erfüllt werden.