Die Einnahme Gomas: Was das für die kongolesische Bevölkerung bedeutet
Wir veröffentlichen hier eine Übersetzung eines Artikels der International Socialist League von Ezra Otieno. Das Original gibt es hier zu lesen (ENG/ESP): https://lis-isl.org/2025/02/08/the-capture-of-goma-what-this-means-to-the-congolese-people/
Goma, die größte Stadt im Osten des Kongo, ist unter die Kontrolle der Rebellengruppe M23 gefallen. Obwohl unklar ist, welche Teile der Stadt genau eingenommen wurden, hat sich der ständige Beschuss merklich gelegt. Zahlreiche Videos zeigen M23-Kämpfer, die auf den Straßen patrouillieren, während kongolesische Soldaten*innen festgenommen werden oder sich im UN-Komplex verstecken. Die Rebellen haben die Versorgung der 2 Millionen Einwohner der Stadt mit lebenswichtigen Gütern wie Wasser und Strom unterbrochen; die Krankenhäuser sind überfüllt mit Verletzten, Vergewaltigten und Sterbenden, die Straßen voller Leichen. Nun kontrollieren die Rebellen den größten Teil der Provinz Nord-Kivu und versuchen, in Goma eine stabile Regierung zu errichten, was durch die jüngste Ermordung des Gouverneurs der Provinz noch deutlicher wurde. In anderen kongolesischen Städten hat die Nachricht von der Einnahme Gomas zu Massenprotesten geführt: Die Bürger*innen demonstrieren für die nationale Armee (FARDC) und gegen das Nachbarland Ruanda, das weithin beschuldigt wird, die Rebellen zu unterstützen. In Kinshasa wurden die Proteste niedergeschlagen, nachdem die Demonstrant*innen mehrere Botschaften angegriffen hatten, darunter die von Ruanda, Uganda, Kenia, den Vereinigten Staaten und Frankreich. Trotz wiederholter Aufrufe der Vereinten Nationen, der Afrikanischen Union und mehrerer Staatschefs zu einem Waffenstillstand hat Präsident Félix Tshisekedi alle zurückgewiesen und darauf bestanden, dass er das gesamte verlorene Gebiet zurückerobern wird. Unterdessen gibt es Berichte, wonach die M23-Truppen in Richtung Bukavu in der Provinz Süd-Kivu vorrücken.
Dieser Konflikt ist Teil eines langen Zyklus der Gewalt, der bis in die Kongokriege nach dem ruandischen Völkermord von 1994 zurückreicht. Seitdem haben sich mehr als 120 bewaffnete Gruppen im Osten des Kongo niedergelassen, angetrieben von der attraktiven Aussicht auf den enormen Mineralreichtum der Region.
Die M23 entstand 2012 und besteht hauptsächlich aus kongolesischen Tutsi und ist bekannt für ihre engen Verbindungen zum Tutsi-Regime in Ruanda und seinem Verbündeten Uganda. Heute gilt die M23 als die disziplinierteste und am besten ausgerüstete Truppe im Osten des Kongo, mit fortschrittlichen Waffen wie Boden-Luft-Raketen, schwerer Artillerie und GPS-Störsendern. Die Vereinten Nationen haben bestätigt, dass zwischen 3000 und 4000 ruandische Soldaten unter der Führung der ruandischen Armee mit der M23 zusammenarbeiten, obwohl Präsident Paul Kagame diese Beteiligung weder bestätigt noch dementiert. Kagame besteht darauf, dass seine Aktionen defensiv sind und darauf abzielen, die Tutsi in der Demokratischen Republik Kongo (DRK) vor den Hutu-Extremisten zu schützen, aber Kritiker argumentieren, dass sein wahres Interesse in den reichen Gold- und Coltanvorkommen des Kongo liegt, Mineralien, die für die Herstellung von Mobiltelefonen und Batterien für Elektrofahrzeuge von entscheidender Bedeutung sind. Obwohl Ruanda selbst nur wenige Coltan-Minen auf seinem Territorium hat, exportiert es große Mengen aus der Demokratischen Republik Kongo, die es auf westlichen und asiatischen Märkten als „konfliktfrei“ vermarktet.
Die erneute Aktivität der M23 nach einer Phase der Ruhe, die Ende 2021 begann, und ihre raschen Vorstöße im Jahr 2022 haben zu zahlreichen internationalen Friedensappellen von Organisationen wie den Vereinten Nationen und Regierungen wie den Vereinigten Staaten und China geführt. Es wurden jedoch keine entscheidenden Maßnahmen ergriffen; lediglich wurden begrenzte Sanktionen gegen einige wenige Kommandeure sowohl in Ruanda als auch im Kongo verhängt. Und es wurde die Militärhilfe ausgesetzt, was jedoch lange nach den ersten Vorstößen der M23 geschah.
Diese lauwarme Reaktion spiegelt eine Veränderung der globalen Machtdynamik wider. Anders als 2012, als Länder wie Ruanda stark von westlicher Hilfe abhängig waren, hat Ruanda heute seine wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zu Nationen wie China, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Katar und Indien diversifiziert. Unterdessen üben die westlichen Mächte weiterhin nur zögerlich Druck auf Ruanda aus, da es ein wichtiger strategischer Verbündeter in der Region ist.
Für Präsident Kagame ist die Herausforderung existenziell. Obwohl er seine Handlungen öffentlich als Verteidigung der Tutsi darstellt, besteht sein Hauptziel darin, sein Regime zu stärken, indem er Wirtschaftswachstum und Stabilität sicherstellt. Dieses Wachstum hängt weitgehend von der Kontrolle der mineralreichen Böden im Osten des Kongo ab. Da die Tutsi in Ruanda nur eine kleine Minderheit darstellen, könnte jeder wirtschaftliche Rückschlag das fragile Gleichgewicht zwischen der herrschenden Klasse und der Mehrheit der Hutu gefährden. Daher wird Kagames Beharren auf einem „sofortigen Waffenstillstand“ als Forderung interpretiert, dass die kongolesische Regierung das derzeitige Kräfteverhältnis anerkennt und damit de facto die Kontrolle der M23 über Nord-Kivu legitimiert.
Der Niedergang der globalen Dominanz der USA und der Aufstieg rivalisierender Mächte wie Russland und China haben viele afrikanische Regierungen dazu veranlasst, eine unabhängigere regionale Vormachtstellung anzustreben. Doch anstatt Fortschritte zu fördern, hat diese Multipolarität oft zu größerer Instabilität und Konflikten geführt: Willkürlich festgelegte Grenzen aus der Kolonialzeit führen immer noch zu Konflikten, und einige afrikanische Führer sehen das Chaos im Osten des Kongo als Chance, ihren Einfluss auszuweiten. Solange kapitalistische Interessen vorherrschen, wird eine echte afrikanische Einheit jedoch schwer zu erreichen sein.
Die Lage in der Demokratischen Republik Kongo ist gefährlich nahe an einer Katastrophe: Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen warnt, dass selbst die Überquerung des Kivu-Sees aufgrund blockierter Straßen und geschlossener Häfen zu einer tödlichen Gefahr geworden ist. Mehr als fünf Millionen Menschen in Nord-Kivu und den angrenzenden Provinzen wurden vertrieben und leben in überfüllten Lagern mit wenig Ressourcen. Die anhaltenden Kämpfe in und um Goma haben die Lieferung von Nahrungsmitteln und Hilfsgütern zum Erliegen gebracht und Millionen von Menschen dem Risiko ausgesetzt, an Hunger zu sterben, während medizinische Experten vor möglichen Ausbrüchen von Cholera und anderen Krankheiten warnen. Die Aufrufe von Präsident Tshisekedi an die Bürger*innen, insbesondere an die jungen Menschen, sich den Wachgruppen und der Armee anzuschließen, werden mit Besorgnis aufgenommen, da ein Zustrom von ungeschulten Kämpfer*innen eine bereits zersplitterte Armee weiter destabilisieren könnte, was die Befürchtungen vor einem Bürgerkrieg verstärkt, der sich zu einem regionalen Konflikt ausweiten könnte, der an die verheerenden Kongo Kriege erinnert.
Es muss jedoch anerkannt werden, dass der Kampf des kongolesischen Volkes auf vielfältige Weise mit den Bankern und Kapitalisten in den Büros in New York, London und Peking verknüpft ist. Wir müssen das dunkle Herz des Weltmarktes angreifen, das sich weiterhin am Blut Afrikas nährt. Der Kampf für die Freiheit in Afrika ist untrennbar mit dem Kampf für den Sozialismus in der ganzen Welt verbunden.
Deshalb prangern wir den Kapitalismus und den westlichen Imperialismus an, da die globalen Mächte das Volk und die Ressourcen des Kongo seit langem ausbeuten, ohne etwas anderes als Heuchelei und noch mehr Ausbeutung zu bieten. Wir kritisieren die Vorteile, die der Westen aus der Zusammenarbeit mit dem Regime Ruandas zieht, während es dargestellt wird, als würde es seinen eigenen Interessen dienen – auf Kosten der afrikanischen Stabilität. Und wir kritisieren die stille Komplizenschaft Chinas, das weiterhin die Bodenschätze des Kongo importiert.
Aus dieser Perspektive kann nur eine Revolution, die von den Arbeiter*innen und Bäuer*innen Afrikas angeführt wird und sich mit globalen revolutionären Kräften verbündet, dem Kreislauf der Ausbeutung und des Blutvergießens ein Ende setzen. Wir rufen zu einem gemeinsamen Kampf gegen den Imperialismus und die kapitalistischen Regime in der Region der Großen Seen Afrikas auf, in der Überzeugung, dass wahre Freiheit und Fortschritt nur durch einen radikalen und systemischen Wandel entstehen können.