Recht auf nationale Selbstbestimmung

Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ist sowohl heute als auch in der Vergangenheit umstritten. Da wir in einer Welt leben, die von imperialistischen Mächten bestimmt wird, haben wir es noch immer mit unterdrückten und unterdrückenden Nationen zu tun, weswegen es für uns als Revolutionär*innen wichtig ist, sich hierzu klar zu positionieren.

Ein kurzer Blick auf die Weltlage genügt um zu sehen, dass die Unterdrückung nationaler Minderheiten vielerorts weiterhin die bittere Realität ist. Politische Rechte werden nationalen Minderheiten oftmals abgesprochen oder gelten nur am Papier, sozial werden Minderheiten meist ausgegrenzt und auch darüber hinaus zählen sie in den allermeisten Fällen zu den Schichten der Arbeiter*innenklasse die am schamlosesten ausgebeutet werden. Auch alltägliche Aspekte des Lebens, wie das Sprechen der eigenen Sprache oder das Ausleben der eigenen Kultur sind nur begrenzt möglich oder gar verboten und ziehen bei Verstößen nicht selten drastische Konsequenzen und politische Verfolgung mit sich, die vor allem im Falle bewusster, also organisierter politischer Auflehnung bis zur Todesstrafe gehen können.

Würde den Unterdrückten ein eigenes Land zugesprochen werden, wäre dies sowohl verbunden mit Territorialverlusten seitens der unterdrückenden Nation als auch mit der Beschneidung ihrer politischen Macht und der Niederlage ihrer nationalen Ideologie. Doch aus einem weiterem Grund wäre dies definitiv nicht in ihrem Interesse: Nationalen Minderheiten das Recht auf Selbstbestimmung zu gewähren, bedeutet nicht nur im politischen, sondern auch im ökonomischen Sinne an Macht zu verlieren. Territorialverluste resultieren in dem Verlust von Absatzmärkten, Ressourcen und Rohstoffen. Zudem verliert die herrschende Klasse jene Schicht die sie am brutalsten ausbeuten kann, was ein ungemeiner Verlust billiger Arbeitskräfte bedeutet.

Die volle Tragweite dieses Verlusts für die Bourgeoise der unterdrückenden Nationen wird aber erst deutlich, wenn man diese in den Kontext unseres imperialistischen Zeitalters setzt. Lenin verstand schon 1916, dass man den Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus sehen muss. Der Kapitalismus schafft eine Systemlogik in der immer mehr Profit erwirtschaftet werden muss, wodurch auch der Zwang besteht Arbeiter*innen, Minderheiten etc. immer mehr auszubeuten um am internationalen Markt bestehen zu können. Dies führt daher zwangsweise neben der immensen Konzentration von Kapital in den Händen weniger Monopole, auch zu verschärfter Konkurrenz zwischen den Staaten. Diese zeigt sich nach außen hin als Krieg, Elend und Ausbeutung. Dies analysiert Lenin als Grundzüge des Imperialismus. Auch ein Jahrhundert später befinden wir uns noch im Zeitalter des Imperialismus. Die äußere Form (Kolonien, Besatzung, Sklaverei etc.) hat sich zwar geändert hin zu ökonomischer und politischer Abhängigkeit, die Logik imperialistischer Ausbeutung ist aber weiterhin dieselbe.

Betrachtet man nun nationale Befreiungskämpfe in diesem Kontext, bedeutet dies auch eine Abnahme der Konkurrenzfähigkeit von jenen Staaten am internationalen Markt und damit eine Schwächung ihrer imperialistischen Interessen.

Was bedeutet aber nun das Selbstbestimmungsrecht der Nationen konkret? Im Mittelpunkt der Frage von nationaler Selbstbestimmung steht das Recht von nationalen Minderheiten eine eigene Nation zu gründen um sich von der unterdrückenden Herrschaft loszureißen und politische Unabhängigkeit zu erreichen. Es wird dabei z.b. mit der Abhaltung eines Referendums nicht in erster Linie die Forderung einer Abtrennung unterstützt, sondern das Recht auf die Wahl einer Abtrennung. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung entspringt daher in keiner Weise aus einer Unterstützung nationalistischer Tendenzen oder der Spaltung der Arbeiter*innenklasse und ihrer Kämpfe, sondern ist um bei Lenin zu bleiben vielmehr „folgerichtiger Ausdruck für den Kampf gegen jegliche nationale Unterjochung.“

Es braucht eine Übergangsperiode der absoluten Befreiung des kapitalistischen Zwanges. Auch wenn der sozialistische Kampf zu einer Verschmelzung der Staaten führt und der endgültige Sieg des Sozialismus überhaupt unweigerlich mit dem Absterben des Staates verbunden ist, müssen wir erst für die Befreiung der unterdrückten Nationen kämpfen um so die Arbeiter*innenklasse aus den unterdrückenden Mechanismen zu lösen und eine internationale Solidarität der Arbeiter*innen zu bilden. Mit dem Ausspruch “Nie kann ein Volk, das andre Völker unterdrückt, frei sein” unterstrich bereits Friedrich Engels das Prinzip des Internationalismus und Sozialismus.

Lenin schlussfolgert aus dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen jedoch zwei unterschiedliche Aufgaben für die Arbeiter*innenklasse, die er wie folgt formuliert: „Das Proletariat muß die Freiheit der politischen Abtrennung der von „seiner“ Nation unterdrückten Kolonien und Nationen fordern. Andernfalls wird der Internationalismus des Proletariats zu leeren Worten; weder Vertrauen noch Klassensolidarität unter den Arbeitern der unterdrückten und der unterdrückenden Nation sind möglich. Anderseits müssen die Sozialisten der unterdrückten Nationen auf die vollständige und bedingungslose, auch organisatorische Einheit der Arbeiter der unterdrückten Nation mit denen der unterdrückenden Nation besonders bestehen und sie ins Leben rufen. Ohne dies ist es unmöglich, auf der selbständigen Politik des Proletariats sowie auf seiner Klassensolidarität mit dem Proletariat der anderen Länder bei all den verschiedenen Streichen, Verrätereien und Gaunereien der Bourgeoisie zu bestehen.“

Nationale Befreiungskämpfe sind jedoch sehr anfällig für die Befeuerung reaktionärer nationalistischer Tendenzen oder können die Illusion schüren, dass mit der eigenen Nation die soziale Frage gelöst werden könnte. Um zu verhindern, dass bürgerliche und andere reaktionäre Kräfte den Kampf für die nationale Befreiung vereinnahmen, dürfen Revolutionär*innen unter keinen Umständen jenen Kräften die Führung überlassen. Es muss darum gehen, die Arbeiter*innenklasse hinter sich zu versammeln und den Kampf in einen proletarischen umzuwandeln. Es muss aufgezeigt werden, dass Unterdrückung und Ausbeutung nicht durch die „eigene Nation“ verschwinden, sondern nur durch den Sturz der Bourgeoise und des Kapitalismus selbst. Zu guter Letzt muss der Kampf gegen den Kapitalismus und den Imperialismus ein internationalistischer sein. Denn sowie die Bourgeoise international organisiert ist um uns auszubeuten und zu unterdrücken, so kann und muss ein erfolgreicher Kampf dagegen ein internationaler und gemeinsamer Kampf sein. Das heißt auch, dass man nicht in jeder Situation Unabhängigkeitsbestrebungen unterstützt, sondern sich auch für den Verbleib innerhalb gemeinsamer Landesgrenzen einsetzt. Wenn sich eine Gruppe für die Abspaltung entscheidet ist es ihr gutes Recht und muss verteidigt werden, aber es ist nicht jederzeit die Aufgabe kommunistischer Gruppen dies auch zu propagieren.

Blickt man nun auf gegenwärtige nationale Befreiungskämpfe bleibt der kurdische einer der zentralsten und weitreichendsten Kämpfe. Die Kurd*innen sind weiterhin die größte Bevölkerungsgruppe ohne eigenen Staat. Der Kampf ist insofern besonders schwierig, als dass die von den Kurd*innen besiedelten Gebiete sich über vier Staaten, nämlich  Türkei, Syrien, Irak und Iran erstrecken. Der kurdische Befreiungskampf ist auch ein bezeichnendes Beispiel wie nationale Minderheiten zum Spielball imperialistischer Interessen werden, insbesondere weil mit den USA und Russland auch zwei große imperialistische Machtzentren um die Kontrolle bzw. den Einfluss konkurrieren.

Vor allem aber in der Türkei bzw. durch türkische Militäreinsätze erfahren Kurd*innen seit Jahrzehnten eine ungemein brutale Unterdrückung. Seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 geht der türkische Präsident Erdogan zudem immer autoritärer gegen alle kritischen und progressiven Kräfte vor, was vor allem Kurd*innen und linke politische Aktivist*innen trifft. Die Türkei hat gerade in den letzten Jahren im Zuge des syrischen Bürgerkriegs unter dem Vorwand den IS zu bekämpfen zahlreiche kurdische Stellungen und Stützpunkte der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) bombardiert. Im Jänner 2018 leitete die Türkei unter dem Befehl von Erdogan die „Militäroperation Olivenzweig“ ein – ein offener mit schwerer Artillerie begangener Angriffskrieg auf Afrin, einer mehrheitlich kurdisch besiedelten Stadt im Norden Syriens. Die Militäroffensive richtete sich vor allem gegen das Erstarken der dortigen kurdischen Kräfte (allem voran der YPG – Volksverteidigungseinheit und der YPJ – einer Einheit, die ausschließlich aus Frauen besteht und gleichberechtigt Seite an Seite mit anderen Milizen kämpft) und den damit verbundenen stärker werdenden Autonomiebestrebungen. Diese Militäroffensive, die sich über drei Monate streckte, kostete zahlreichen Kurd*innen das Leben, die von türkischen Militärs gefangen genommen, gefoltert und ermordet wurden.

Aber auch abseits von Kurdistan blicken wir gerade einer Weltlage entgegen, wo das imperialistische Säbelrasseln und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt  immer weiter zunimmt. Der Imperialismus verschärft durch den steigenden Militarismus, in dem grausame Kriege geführt werden, die ausschließlich imperialistischen Macht- und Kapitalinteresse dienen, und in der eine abartig große Anzahl an Arbeiter*innen ums Leben kommen, die Klassengegensätze. Gleichzeitig bietet diese verschärfte Situation und vor allem die instabile und krisenhafte Lage des Kapitals auch die Chance des Gegenangriffes. Die aktuelle Weltlage sorgt daher im doppelten Sinne für die unabdingliche Forderung des Rechts auf Selbstbestimmung der Nationen. Einerseits aufgrund der drohenden Verschärfung von Unterdrückung, Ausbeutung und Elend und andererseits aufgrund der Möglichkeit die Krise und den damit verbundenen immer offener auftretenden Klassenkampf auf die Spitze zu treiben und ihn in einen Kampf gegen das kapitalistische System und der Bourgeoise zu wandeln. Denn um den Kapitalismus zu stürzen und den Sozialismus zu etablieren braucht es letztlich einen gemeinsamen Kampf auf der Basis der freien Vereinigung der Arbeiter*innenklasse.


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